Ein lesenswerter, religionskritischer Artikel von Hans Halter aus dem Jahre 1998
Wo bleibt die Seele nach dem Tod? Was geschieht mit ihr? Der Papst hat darüber eigene Theorien entwickelt – nun ist das theologische Kuddelmuddel perfekt.
Wer nach Rom zum Heiligen Vater pilgert, der muß einen langen Hals machen, um bei der öffentlichen Audienz des Statthalters Jesu Christi auf Erden ansichtig zu werden. Was der 264. Nachfolger des Apostels Petrus jedoch zu sagen hat, überträgt Radio Vatikan gut verständlich in alle Welt.
Ende Oktober verkündete Johannes Paul II. vor Pilgern seine Theorie über die Seele des Menschen. Das wurde auch höchste Zeit. Der strenge deutsche Kurienkardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der römischen Glaubenskongregation, hatte alle Kollegen bereits gemahnt, „mehr vom ewigen Leben und Gottes Gericht zu sprechen“. So was läßt sich der polnische Priester Karol Wojtyla nicht zweimal sagen.
Je älter er wird, desto mehr interessiert sich der gesundheitlich angeschlagene 78jährige für das Leben nach dem Tod – inklusive Himmel, Hölle, Fegefeuer, Engel, Teufel und dem Jüngsten Gericht. Seit nahezu 2000 Jahren schmücken die christlichen Theologen das Jenseits mit Heils- und Horrorvisionen aus. Doch vieles widerspricht sich, an Gewißheit fehlt es den armen Seelen noch.
Damit ist für gläubige Katholiken nun Schluß. Papst Johannes Paul II. sagt, wie es wirklich ist:
Man sollte nicht meinen, daß das Leben nach dem Tod erst mit dem Jüngsten Gericht beginnt. Es herrschen ganz besondere Bedingungen nach dem natürlichen Tod. Es handelt sich um eine Übergangsphase, in welcher der Körper sich auflöst und das Weiterleben eines spirituellen Elements beginnt. Dieses Element ist ausgestattet mit einem eigenen Bewußtsein und einem eigenen Willen, und zwar so, daß der Mensch existiert, obwohl er keinen Körper mehr besitzt.
Das „spirituelle Element“ – die Seele – gilt Theologen als das „nach dem Tode existente nichtfleischliche Selbst des Menschen“, als eine „unstoffliche Grundgegebenheit vergangenen Daseins“.
Der Papst verkündigt: Jede Seele werde neu und „unmittelbar von Gott geschaffen“, eigens für jeden Leib. Früher glaubte man, daß Knaben am 40. Tag, Mädchen erst am 80. Tag des fötalen Lebens eine Seele aus Gottes Hand erhalten. Inzwischen gilt der Moment der Zeugung als Geburtsstunde der Seele. Unglücklicherweise ist sie mit der Erbsünde belastet, wegen Adams Fehltritt im Paradies.
Ob der Leib das Grab der Seele ist oder vielleicht nur sein Gefängnis, ob die Seele durch den Leib in die Sünde – definiert als „Ungehorsam gegen Gott“ – herabgezogen wird oder ob es sich womöglich umgekehrt verhält: Das alles hat unter Christen zu lebhaften, auch kriegerischen Kontroversen geführt, blieb aber ungeklärt.
Einig ist man sich nur in einem: daß die Seele unsterblich ist. Doch damit beginnen gleich die nächsten Schwierigkeiten: Wo bleibt die Seele zwischen Tod und Jüngstem Gericht? Hat sie ihre Ruh‘ bis zum Gerichtstermin? Schläft sie, während der Leib zu Staub zerfällt? Nein, sagt der Papst. Das „spirituelle Element“ sei auch ohne Körper ein Mensch, unsichtbar zwar, aber ausgestattet mit Bewußtsein und eigenem Willen, logischerweise also auch mit Gedächtnis und Verstand.
Das wird sich als sehr vorteilhaft erweisen, denn im Jenseits muß sich die Seele auf vielerlei Überraschungen gefaßt machen. Es ist, wie Wojtyla sagt, eben eine „Übergangsphase“ mit „ganz besonderen Bedingungen“. Was genau er darunter versteht, verrät er nicht.
Bisher galt: Der Seele droht entweder die Hölle, eine göttliche Strafanstalt, in der es, wie der kritische Münsteraner Theologe Herbert Vorgrimler sagt, zugeht wie in einem „gigantischen unterirdischen Auschwitz“ mit Folter, Sonderlagern, Schwefel und Feuer, Hunger und Durst.
Die Seele kann aber auch in den Himmel entschweben, wo Milch und Honig fließen, die Harfen klingen, alle Sinne sich ergötzen, kurzum: Es herrscht der „Zustand höchsten Glücks“, so schön, daß er laut neuestem „Katechismus der Katholischen Kirche“ über „jedes Verständnis und jede Vorstellung hinausgeht“. Deshalb sind die interessanten Fragen, ob es im Himmel geschlechtliche Liebe gibt oder wie dort die Verhältnisse irdischer Ehepartner geregelt sind, unbeantwortbar.
Die mittelalterliche Mystikerin Mechthild von Magdeburg (1210 bis 1285) war ganz sicher, daß sich der Herr Jesus im himmlischen Brautgemach mit den reinsten aller Jungfrauen – Nonnen wie Mechthild – intim vereinigen werde. Mechthild wurde heiliggesprochen. Sehr zu ihrem Vorteil, denn die Seligen und Heiligen erfahren alle himmlischen Freuden ohne Zeitverlust, sie gelangen unverzüglich in den Himmel. Allen anderen droht ein gerichtliches Verfahren – wann, wo und wie oft, darüber hat sich der Papst bisher nicht geäußert. Das ist theologisch vermintes Gelände. Denn die Wege ins Paradies oder ins ewige Feuer sind in zwei Jahrtausenden mehrfach neu markiert worden.
Glaubt man dem Apostel und Evangelisten Matthäus – er war Zöllner und soll später mit einem Beil erschlagen worden sein -, so hat Jesus ihm erzählt, daß am Jüngsten Tag, dem Ende der Welt, alle Menschen vom Tode auferstehen werden. Sie versammeln sich dann zum Weltgericht, das Jesus in Gottes Namen abhalten wird.
Dabei scheidet er die Guten von den Bösen, „gleich wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet“. Die Guten kommen in den Himmel, die Bösen für immer in die Hölle. Revisionsmöglichkeiten gibt es nicht.
Johannes, der Lieblingsjünger Jesu – er folgte dem Ruf seines Herrn, ohne sich, so der Mythos, auch nur ein einziges Mal nach seiner Braut umzublicken -, hat die Modalitäten von Himmelfahrt und Höllensturz unter Berufung auf Jesus anders dargestellt. Danach „kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind“, Jesu Stimme hören werden. „Und es werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.“
Beim Weltgericht, wie es dem Apostel Johannes vorschwebt, wird also weniger Gedränge herrschen als bei seinem Kollegen Matthäus. Denn laut Johannes fahren die Guten am Jüngsten Tag direkt und ohne gerichtliche Überprüfung in den Himmel hinauf. Nur die Bösen werden abgeurteilt. Der göttliche Richter kennt dabei nur Freispruch oder Höllenfahrt.
Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, unter seinesgleichen ein liberaler Mann, beschreibt die Hölle als „totale, unaufhebbare Vereinsamung des Menschen“. Niemand könne katholischer Christ sein, ohne an die Hölle zu glauben, „denn wo es Heil gibt, gibt es auch Heilsverlust“. Lehmann wird es wissen, er hat über die Auferstehung zum Dr. theol. promoviert.
Jesus, ein anderer Sachverständiger, nennt die Hölle einen „Ofen, in dem das ewige Feuer brennt“. Nach seiner Kreuzigung hat Gottes Sohn sich die Zeit bis zur Auferstehung mit einer „Höllenfahrt“ vertrieben. Er überwand die Teufel und führte die gepeinigten Vorväter des Alten Testaments, die Jahrtausende auf ihre Erlösung gewartet hatten, direkt ins Paradies.
Dort begrüßte sie der „Gute Schächer“. Der hatte, wie es sein Beruf erforderte, während seiner irdischen Jahre Tieren ohne Betäubung die Halsschlagader aufgeschnitten und sie ausbluten lassen. Als er von der römischen Besatzungsmacht neben Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, bereute er seine Verbrechen. Zum Lohn hatte Gottes Sohn ihm versprochen: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ – und Wort gehalten.
Die beiden biblisch bezeugten Varianten des letzten Gerichts lassen jedoch viele Fragen offen. Weil das Weltgericht am Ende der Zeit tagt, ist unklar, wo Gerechte und Ungerechte die Wartezeit verbringen, vor allem: ob gemeinsam oder getrennt, schlafend oder munter, leidend oder guter Dinge. Darüber schweigt sich die Bibel aus, was den polnischen Papst nicht daran hindert, die Geschichte fortzuschreiben.
Das haben auch einige seiner Vorgänger getan. So hat Papst Benedikt XII., vor seinem Amtsantritt ein gefürchteter Inquisitor, 1336 „mit apostolischer Vollmacht“ einen „für immer geltenden Lehrentscheid“ erlassen, der auch seinen Nachfolger Johannes Paul II. bindet. Danach gibt es im Jenseits außer Himmel, Hölle und Jüngstem Gericht noch drei weitere Institutionen: ein „Partikulargericht“, das „Fegefeuer“ und den „Limbus“.
Sofort nach dem irdischen Tod wird die Seele vor ein besonderes Gericht gestellt. Drei Pfade tun sich dabei auf: Im Glücksfall tritt der Delinquent „unmittelbar in die himmlische Seligkeit“ ein. In die Hölle gerät, „wer sich selbst für immer sogleich verdammt“. Zweifelsfälle werden zur Läuterung ins Fegefeuer verwiesen. Milde waltet nur bei den ungetauften kleinen Kindern. Ihre Seelen kommen in den Limbus, einen neutralen Ort, wo sie keine himmlischen Freuden genießen, aber auch keine höllischen Qualen leiden.
Wer als getaufter Erwachsener „in der Gnade und Freundschaft Gottes stirbt“, aber, wie das irdische Leben so spielt, „noch nicht vollkommen geläutert ist“, der muß in das reinigende Fegefeuer. Dort widerfährt der armen Seele höllische Pein, sie ist aber zugleich hoffnungsfroh. Denn über kurz oder lang darf sie in die „Freuden des Himmels“ eingehen. Ob das Fegefeuer Stunden, Jahre oder gar Jahrtausende dauert, ist ungewiß.
Ein Segen, daß die harten Zeiten im Jenseits den armen Seelen durch Gottes Engel erleichtert werden. Dazu hat Papst Johannes Paul II. bereits vor zwölf Jahren das Nötige offenbart: Auch die Engel sind danach „mit Vernunft und freiem Willen begabt“, nicht anders als die menschlichen Seelen. Engel sind aber „rein geistige Geschöpfe“ und deshalb „dem Menschen überlegen“. Sie treten als – meist wohlwollende – Zeugen vor Gericht auf und haben, lehrt der jetzige Papst, „am Urteil Gottes teil“.
Evangelische Christen brauchen nicht vor das Individualgericht oder ins Fegefeuer. Die Reformatoren haben beides aus der Christenlehre getilgt. Es gilt das Wort des Zürcher Reformators Ulrich Zwingli: „Stirbt einer im Glauben, so wird er heil, stirbt er in Unglaubnis, so wird er verdammt.“
Wie der Papst seine Seelenkunde von der Übergangsphase mit dem gültigen Lehrentscheid Benedikts XII. harmonisieren will, ist sein Geheimnis. Schließlich hatte dieser Mönch auf dem Stuhl Petri verkündet, daß Fegefeuer und Höllenstrafen sofort, unmittelbar nach dem irdischen Tod, eintreten. Gottes Allmacht dulde keinen Aufschub bis zum Jüngsten Gericht an irgendeinem Sankt Nimmerleinstag.
Auch kollidiert Karol Wojtylas Seelenlehre sowohl mit den Mitteilungen des Alten Testaments, nach denen die Seele mit dem Leib stirbt und nur gemeinsam mit ihm aufersteht zum ewigen Leben, als auch mit den Notizen des Evangelisten Johannes, bei dem von Seelen überhaupt nicht die Rede ist.
Dem Schweizer Historiker Peter Jezler, einem anerkannten Experten für Himmel, Hölle und das Fegefeuer, ist noch ein weiteres Dilemma aufgefallen: „Wenn man die Fegefeuer-Lehre mit jener vom Weltgericht überlagert, entsteht notgedrungen Gegenverkehr.“ Jezler, der die überirdischen Rechts- und Aufenthaltsregeln grafisch dargestellt hat, zeichnete eine recht verwirrende Übersicht vom letzten Stand der himmlischen Gerechtigkeit.
Am Jüngsten Tag kehren demnach alle menschlichen Seelen aus Himmel und Hölle zum Weltgericht zurück. Diese überirdische Revisionsinstanz unter dem Vorsitz von Gottes Sohn wird die Urteile des Partikulargerichts in der Regel bestätigen, in Ausnahmefällen aber auch korrigieren, woraufhin die Seelen sich mit ihrem auferstandenen Fleisch verbinden und in Himmel oder Hölle zurückkehren.
Das Gedränge wird beträchtlich sein, da seit Christi Geburt viele Milliarden Christenmenschen gestorben sind, die alle vor das Weltgericht gestellt werden. Vom Erscheinen befreit sind nur die Seligen und Heiligen der katholischen Kirche, über 4000 Personen. Wie kein Papst vor ihm hat Karol Wojtyla aus Krakau deren Zahl vermehrt. Er sprach über 300 Menschen heilig, die nun alle im Paradies leben.