Konturen einer Ethik für freie Geister (9)

Ethischer Rahmen für alle Lebensformen

Wir haben nicht das Recht, die vorhandenen Interessen von Menschen deshalb geringer zu schätzen, weil sie zu einer anderen Rasse oder zu einem anderen Geschlecht gehören. Somit sind wir auch nicht berechtigt, die vorhandenen Interessen von nichtmenschlichen Lebewesen deshalb geringer zu schätzen, weil sie zu einer anderen biologischen Gattung, zu einer anderen Lebensform gehören.

Eine Ächtung der Ungleichbehandlung von Lebewesen aufgrund ihrer Gattung ist ein elementares philosophisch-ethisches Gebot. Postulat der goldenen Regel.

Eine ethische Höherentwicklung der Menschheit würde das Wollen bedeuten, das Leid aller Lebewesen zu mildern, nicht aber nur die Milderung des Leides beim Menschen, was mit unsäglicher Verstärkung des Leides der übrigen Lebewesen erkauft wird.

Dieses Wollen ist nicht zu beobachten, was im Umkehrschluss bedeutet, dass eine ethische Weiterentwicklung des Menschen nicht stattfindet.

Jedes Leben ist in seiner Zuordnung zu einer Lebensform zufallsabhängig. Es liegt nicht in der Macht eines Lebewesens, diese Form zu beeinflussen. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass es nicht das Verdienst des Menschen ist, als Mensch geboren zu werden.

Der Vogel, der Fisch, der Hund, das Schwein werden von der Natur – wie der Mensch – in ein Leben ohne Entscheidungsmöglichkeit über die Lebensform geworfen, die für den Glücklichen Frieden, für den Unglücklichen aber Leid, Angst, Schmerz und grausamen Tod bedeutet.

Der unendliche Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden ist der Natur immanent mit der Folge, dass Leben nur auf Kosten anderen Lebens erfolgt.

Von allen Lebewesen hat aber allein der Mensch die moralische Wahlmöglichkeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Seine ethische Weiterentwicklung lässt sich daran ablesen, inwieweit er diesen Kreislauf durchbricht, das Auslöschen von Leben zu vermeiden sucht und die Einmaligkeit jedes Lebewesens als Mitgeschöpf akzeptiert. Erst dieses Verhalten bedeutet eine tiefe Ehrfurcht vor dem Leben, eine tiefe moralische Integrität.

Das Verdikt der Natur, das Leben nur auf Kosten anderen Lebens existiert, muss und kann von dem Menschen für sein eigenes Handeln nur pragmatisch gehandhabt werden. So steht dem Menschen der Vogel näher als die Fliege, der Hund näher als der Hering, die Biene näher als die Bakterie. Dieses Vorgehen bedeutet aber nur eine Wertescala für das tägliche Leben des Menschen, nicht aber eine Wertescala für das Weltganze!

So wie dem Menschen eine Würde zugesprochen wird, hat auch jedes Tier seine Würde.

Der Mensch möchte frei und unbeschadet leben, soziale Kontakte haben und sein Leben in Frieden verbringen. Das gleiche Verlangen hat das Tier. Jedes Tier fürchtet die Vernichtung, fürchtet den Schmerz.

Es kommt am Wenigsten bei der Betrachtung der Fähigkeiten eines Lebewesens darauf an, ob Tiere die gleiche Intelligenz des Menschen haben, sondern einzig, ob sie die gleiche Leidensfähigkeit haben. Grundsätzlich gilt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Albert Schweitzer)