Warum die Kirche lügen muss

I.Über den Umgang der Kirche mit der Heiligen Schrift

Für die christlichen Kirchen der Gegenwart und Vergangenheit gilt die Bibel als heilige Schrift. Der überwiegende Teil der Christenheit auf Erden – und das sind immerhin zwei Milliarden Menschen – liest die Bibel im wörtlichen Sinne als vom heiligen Geist eingegebenes Wort Gottes, so wie es bis zur Aufklärung allgemein üblich war. Dies geschieht, obwohl das dabei vorausgesetzte Schriftprinzip überholt und unhaltbar geworden ist. Denn die Bibel wurde nicht vom Heiligen Geist eingegeben. Sie ist Menschenwort. Dieses sichere Ergebnis hat bisher wenig gegen alle Spielarten von erbaulicher Lektüre der Bibel auszurichten vermocht. Vielmehr herrscht in der gesamten Christenheit weiterhin fast ungebrochen die Meinung vor: Bei der Lektüre der heiligen Schrift redet mich Gott an. Warum sonst liest der Christ die Bibel? Und warum sonst heißt sie heilige Schrift?

Nun hat die seit 250 Jahren betriebene historische Kritik jeden einzelnen Vers der Bibel als Menschenwort zu verstehen gelehrt, so dass vom heiligen Status der Bibel wenig übrig geblieben ist. Wie hat man in der Kirche darauf reagiert? Als Beispiel wähle ich das Vorwort zur revidierten Lutherbibel aus dem Jahre 1984, das in hoher Auflage kursiert. Hier heißt es:

„Die Bibel will allen Menschen die gute Nachricht von Gottes Barmherzigkeit ausrichten. Die ältesten Zeugnisse des Alten Testaments reichen in die Zeit zurück, als Israel aus der Wüste in das verheißene Land zog. Von der Geschichte dieses Volkes wird erzählt, die Botschaft seiner Propheten wird verkündigt, das Gotteslob der Psalmen wird gesungen.

Die Schriften des Neuen Testaments sind zum großen Teil in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. aufgezeichnet worden, zuerst die Briefe des Apostels Paulus, dann die Berichte von Jesu Wirksamkeit, seinem Leiden, Sterben, Auferstehen; dazu kamen schließlich einige Briefe, die zu Anfang des zweiten Jahrhunderts aufgezeichnet wurden.

Jede biblische Schrift spricht in eine bestimmte geschichtliche Lage hinein. Sie redet Menschen an, die Sorgen und Freuden, Leid und Glück kennen, und sagt ihnen, dass Gottes Wort sie trösten und aufrichten, ihr Leben bestimmen und leiten will. Die biblischen Zeugen geben weiter, was sie erfahren haben: „Gottes ‚Wort ist wahr, darauf kann man sich verlassen. Was gestern galt, gilt auch heute, morgen und allezeit.“

Dieses Vorwort vereinigt in sich Ergebnisse der Bibelwissenschaft und theologische Spitzenformulierungen. Dies entspricht der Praxis in der anschließend gebotenen Übersetzung, Kernsätze der Bibel werden hier nämlich in halbfetter Schrift gedruckt und die Übersetzungen berücksichtigen den textkritischen Befund. So wird beispielsweise die berühmte Perikope von der Ehebrecherin („Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“) als spätere Zutat bezeichnet und ebenso erfährt der Bibelleser, dass die Erzählung von der Auferstehung Jesu dem Markusevangelium erst im zweiten Jahrhundert nachträglich hinzugefügt wurde.

Die Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984 samt Vorrede ist somit ein Beispiel für die heutige Stellung und für den Gebrauch der Bibel im Lager der evangelischen Kirche, das von der Bibelkritik geprägt ist.

Allerdings ist sofort darauf hinzuweisen, dass die Ergebnisse der historischen Kritik nicht konsequent in die Lutherbibel Eingang fanden. Im folgenden greife ich nur zwei Punkte heraus, die fast beliebig vermehrt werden könnten:

Erstens: In der Übersetzung des Alten Testaments sind unter anderem diejenigen Stellen fettgedruckt, die die Christenheit seit 2000 Jahren als Voraussagen auf Jesu Kommen angesehen hat und die alljährlich in Weihnachts- oder Karfreitagsgottesdiensten vorgelesen werden, Ich zitiere hier nur zwei:

Jes 7.14 dient als Prophezeiung der jungfräulichen Geburt Jesu:

„Siehe. eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.“

Jes 53,4-5 wird verstanden als Voraussage des Leidens Jesu:

„Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre, Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Nun hat aber die Bibelkritik ein für allemal gezeigt, dass diejenigen Stellen des Alten Testaments, die von der christlichen Kirche als Voraussagen auf das Kommen Jesu angeführt werden, nichts mit diesem zu tun haben, sondern Personen der damaligen Zeit im Blick haben. So bezieht sich in den angeführten Stellen der leidende Gottesknecht auf das Volk Israel und der Sohn auf ein Kind des Propheten Jesaja. Aber auch wenn die soeben genannten Bezugspersonen unzutreffend sein sollten, so ist dennoch die Deutung auf Jesus in jedem Fall ausgeschlossen, denn dieser lebte erst viele Jahrhunderte später.

Ist es dann aber nicht erbärmlich, wie allweihnachtlich bzw. jedes Jahr in der Karwoche jenes Possenspiel mit dem Alten Testament vor den nichtsahnenden Zuhörern aufgeführt wird, die nur einmal pro Jahr in die Kirche gehen? Verdienen sie nicht Aufklärung darüber, dass die frühen Christen die genannten Bibelverse gegen die nicht-christusgläubigen Juden verfälscht haben? (Abgesehen davon steht im hebräischen Urtext von Jes 7,14 nicht „Jungfrau“, sondern „junge Frau“.)

(Fortsetzung folgt …… )

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