Der Mensch: ein Tier wie ich und Du?

Menschen sind auch nur Tiere, war Charles Darwin überzeugt. Vielleicht andere Tiere, aber manche Tiere sind genau so anders wie wir, und alle Tiere sind sich, ob nun anders oder nicht, in vielem ähnlich.

Das war ein Affront sondergleichen. Die Vorrangstellung des Menschen gegenüber Tieren beruht seit jeher auf der Idee, es gäbe ein Merkmal, das allein uns Menschen eigen ist: Menschen – nicht aber Tiere – seien das Ebenbild Gottes, sie hätten eine Seele, verfügten über Vernunft, Selbstbewusstsein oder die Fähigkeit, sich mit einer Sprache zu verständigen.

Noch im 17. Jahrhundert betrachtete man Tiere offenbar als Automaten und ihre Schreie unter den Messern der Vivisektoren wurden mit den Geräuschen eines Uhrwerks verglichen. Heute wissen wir es besser, denn heute wissen wir, dass Tiere auch Empfindungen haben und fähig sind, Lust und Leid zu erfahren. Fast alle Tiere sind empfindungsfähige Wesen und haben ureigene Wahrnehmungen, Bedürfnisse, Gefühle und Interessen, viele von ihnen besitzen ein ausgeprägtes Sozialverhalten, einigen schreibt man einen hohen Grad an Intelligenz zu, anderen räumt man sogar Selbstbewusstsein ein.

All diese Befunde, die uns die moderne Verhaltensforschung am Laufmeter beschert, gehen Hand in Hand mit der zentralen Einsicht der Evolutionsbiologie: Es gibt keine geistige Fähigkeit, die einzig der Mensch aufweist und die allen anderen Tieren vollständig fehlt.

Es scheint, als hätten wir, dank Darwin, das Zeitalter des französischen Philosophen und Naturwissenschaftlers Descartes endgültig überwunden, für den Tiere nichts anderes als “ seelenlose Maschinen” waren. So lehrte und behauptete er einst, Tiere seien gefühllos wie Metall und ihre Schmerzensschreie würden nichts anderes bedeuten als das Quietschen eines Rades.

Darwin hat uns keine Tierethik hinterlassen, ein Zusammenhang mit seiner Theorie besteht aber allemal. Denn die Suche nach einem Merkmal, das uns Menschen von allen anderen Tieren unterscheidet, war – und ist bis heute – immer auch eine Suche nach etwas, das uns moralisch wertvoller macht; und sei es nur ein gewisses Quantum an Intelligenz, an Bewusstsein oder Autonomie.

Wenn Darwin aber Recht hat, und wenn es Merkmale wie Intelligenz oder Bewusstsein sind, die den moralischen Wert eines Lebewesens ausmachen, dann hat dies unmittelbare Konsequenzen für unseren Umgang mit den Tieren. Denn der Schutz, den Menschen geniessen, weil sie diese Merkmale besitzen, sollte dementsprechend auch den Tieren zukommen, die sie ebenfalls aufweisen.

Die Realität sieht aber leider immer noch anders aus. Zwar bewundern wir das Einfühlungsvermögen von Hunden, uns fasziniert das Seelenleben unserer Katzen, wir staunen über das Sozialverhalten der Hühner, über die Intelligenz von Schweinen oder die Fähigkeit von Primaten, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Und doch hindert all das den Menschen nicht daran, diese Tiere in seinen Dienst zu stellen, sie auf engstem Raum einzupferchen, zu mästen und zu schlachten, an ihnen zu experimentieren oder sie in Zoos auszustellen.

“Wie intelligent muss ein Papagei sein, bevor wir ihn als moralisches Lebewesen anerkennen?”, fragt der amerikanische Rechtsphilosoph Gary L. Francione und meint das keineswegs rhetorisch. Es wäre in der Tat unklug, die Anforderungen an jene, die in den Klub der moralisch Gleichen aufgenommen werden dürfen, an immer höhere und komplexere geistige Fähigkeiten zu knüpfen. Weshalb? Weil es immer auch Menschen gibt, die über diese Eigenschaften nicht verfügen. Nicht alle von uns sind in der glücklichen Lage, sich sprachlich zu artikulieren, nicht alle von uns führen ein selbstbestimmtes Leben, sind mit Autonomie, Selbstbewusstsein oder Rationalität ausgestattet. Säuglinge, Schwerbehinderte oder demente Menschen sind es offenbar nicht. Heisst das nun, dass wir mit diesen “Grenzfällen” (wie sie in der Fachliteratur unschön genannt werden) umgehen dürfen wie mit nichtmenschlichen Tieren, dass wir sie im Zirkus vorführen, sie mästen, einsperren und auffessen oder an ihnen experimentieren dürfen? Natürlich nicht!

Es bedeutet aber, dass wir nach einem Merkmal suchen sollten, das diese Menschen ebenfalls besitzen und das sie moralisch genauso wertvoll macht wie die übrigen von uns. Dass auch Säuglinge, Schwerbehinderte oder Demente „Gottes Ebenbild“ sind, dürfte seit Darwin ebenso wenig ein Argument sein wie der lapidare Hinweis, dass auch diese Menschen der Spezies homo sapiens angehören. Und dieses einzige Merkmal, dass alle von uns aufweisen, ist die Empfindungsfähigkeit.

Sind wir der Überzeugung, dass Menschen gleichermassen moralisch wertvoll sind, dann muss es dieses Merkmal sein, das allein dafür ausschlaggebend ist, weshalb wir allen Menschen den Schutz fundamentaler Interessen am Leben, an Freiheit und Unversehrtheit zugestehen. Dann aber gibt es keinen Grund mehr, nichtmenschliche Tiere aus dem Klub der moralisch Gleichen auszuschliessen oder sie als Mitglieder zweiten Ranges zu behandeln.

Auch wenn manche von ihnen intelligenter, sprachbegabter oder mit mehr Selbstbewusstsein ausgestattet sein sollten als andere, so gilt doch eines mit Sicherheit: Sie alle sind empfindungsfähige Wesen – genauso wie wir. Und also sollten wir ihnen denselben Schutz gewähren, den wir auch uns und unseresgleichen bieten.

Doch die Realität, wie bereits schon einmal gesagt, sieht leider anders aus, denn wir Menschen bewegen uns immer noch in Descartes’ Zeitalter. Schlimmer noch: Obschon es für uns keinen Zweifel daran gibt, dass auch nichtmenschliche Tiere empfindungsfähige Wesen sind, sehen wir doch grosszügig über diese Tatsache hinweg und behandeln sie nach wie vor als Ressourcen, die für uns da sind und die wir nach Belieben ausbeuten dürfen.

Und genau darin liegt das eigentlich Beschämende für uns Menschen: Descartes’ Zeitgenossen mochten es nicht besser gewusst haben, als sie in Tieren blosse Automaten sahen. Wir aber müssten und sollten es eigentlich besser wissen. Und doch verbergen wir uns auch weiterhin hinter dem Schleier angeblicher Unwissenheit.

Quelle: http://www.tier-im-fokus.ch

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